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  • AutorenbildValerie Dean

Aktualisiert: 20. Sept. 2022

Mary Sue – No one likes her, everyone loves


Was ist eine Mary Sue überhaupt? An welchen Merkmalen erkennt man eine Mary Sue? Und wie kann ich verhindern, selbst eine Mary Sue zu kreieren?

Zuerst einmal fragen sich manche sicherlich, was es mit dem Begriff „Mary Sue“ auf sich hat. Die Person oder vielmehr Hauptperson stammt aus der Geschichte „A Trekkie´s Tale“ und wird heute als abwertende Bezeichnung für einen „perfekten“ Charakter eines Romans benutzt. Es gibt auch männliche Bezeichnungen für Mary Sues, ein Beispiel „Gary Sue“. Auch Nebencharaktere (wie z.B. der angehimmelte Schwarm der Hauptfigur) können Mary/Gary Sues sein! In der Geschichte „A Trekkie´s Tale“ ist Mary Sue die Heldin. Sie rettet alle vor dem Verderben. Das an sich ist doch gar nichts Verwerfliches, denkt ihr sicher. Mary Sue löst alle aufkommenden Probleme bravourös und zieht im Laufe der Geschichte das Interesse aller Nebenfiguren auf sich. Geschichten mit einer Mary Sue als Hauptbesetzung sind auf die Dauer sehr einschläfernd und langweilig. Denn Mary macht immer alles richtig und ihre Handlungen sind vorhersehbar. Zudem verliert die Geschichte irgendwann an Glaubwürdigkeit, da niemand im realen Leben so perfekt sein kann wie die Mary Sue in besagter Story.

Die unterbewusste Intention hinter einer Mary Sue ist meistens, ein Ideal seiner eigenen Person mit seiner Geschichte zu erschaffen. Verständlich und menschlich – aber für Leser einfach nur nervig. Beispiel:

Autor: „Ich bin auch blond und blauäugig, hab aber eine große Nase, meine Hauptfigur ist dagegen wie ich nur ohne jegliche Makel.“

Hier sind ein paar Merkmale an denen ihr erkennt, dass es sich in eurer Geschichte oder in einem Roman, den ihr gerade lest, um eine Mary Sue handelt: 1. Sie/ Er ist etwas Besonderes, hat sich dies aber nicht wirklich verdient

  • ist einzigartig, auf welche Weise auch immer

  • hat besondere Fähigkeiten, die andere nicht haben

  • eine besondere Bestimmung wartet auf die Person

2. Sie/Er ist äußerlich wie innerlich makellos

  • ist wunderschön, ohne es selbst zu wissen

  • hat keine Charakterschwächen, sondern ist selbstlos und gut

  • handelt zu jedem Zeitpunkt richtig

3. Sie/ Er ist für alle anderen Charaktere attraktiv, wenn nicht sogar unwiderstehlich

  • männliche/weibliche Wesen finden die Hauptperson gleichermaßen attraktiv, ihr Interesse für Mary/Gary Sue ist im ersten Moment geweckt

  • viele weibliche/männliche Charaktere sind in Sues verliebt

4. ruft extreme Gefühle hervor

  • andere Personen im Buch lieben/hassen sie/ihn grundlos und bedingungslos (unlogisch-> denn wenn ich jemanden gar nicht kenne, wie kann ich dann sofort in ihn verliebt sein/ die Person hassen?)

  • am ersten Tag in der Schule/ High School etc. sind alle nett zu ihr/ihm; sie/er muss sich nicht erst einen Rang erkämpfen oder aus sich herauskommen

5. Der Partner einer Sue hat nur Augen für sie

  • es interessiert ihn/ sie niemand anderes, denn Mary/Gary Sue ist sein/ihr Ein- und Alles

  • Hat gefühlte 1000 Jahre auf sie gewartet

  • würde sie/ihn nie im Leben betrügen (denn im Leben einer Mary Sue gibt es ja keine Probleme)

6. Hat viele Talente

  • nichts ist zu schwer für ihn/ sie

  • Er/ sie schafft alles ohne Hilfe im Handumdrehen

  • nur andere benötigen Hilfe von ihm/ihr

7. Hat keine oder nur weniger schlimme Mängel

  • Hat nur Schwächen, die nicht besonders schlimm oder peinlich sind und Mary/Gary nicht dämlich erscheinen lassen

Also, ihr merkt, um zu verhindern, eine Mary Sue zu erstellen, braucht man gar nicht viel: Einfach nur ein Gespür dafür, wann die Hauptperson auch mal etwas einstecken muss und dafür, wie das wirkliche Leben spielt. Achtung! Ihr müsst nicht gleich eine Anti-Mary Sue erschaffen, vor lauter Panik, ihr könntet das Gegenteil erschaffen. Das deprimiert doch nur, denn jeder hat auch gute Seiten und Talente! Verliert einfach nie den Hang zur Durchschnittlichkeit! Und ein wenig Überdurchschnittlichkeit hat auch noch keinem wehgetan:) Viel Spaß und Erfolg beim Schreiben, eure Valerie Dean.

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  • AutorenbildValerie Dean

Aktualisiert: 20. Feb. 2023

~ Gedicht ~

Die Fotografie stammt von Ethan Hoover (pexels.com).

Inmitten all der bunten Lichter Steh ich wie damals im Gedränge Und all die fröhlichen Gesichter Ziehen vorbei wie alte Klänge

Die Bilder kommen von allein Am gleichen Ort, an dem ich steh Nicht in Erinnerungen will ich sein Denn die Vergangenheit tut manchmal weh

Ich sehe bloß noch dein Gesicht Ich freue und auch fürchte mich Du stehst dort drüben in dem Licht Mit einem Lächeln, ein Gedicht

Und kaum hab ich mich umgesehen Da sitze ich im Karussell Steig ein ins unvorhersehbare Leben Die Zeit vergeht so furchtbar schnell

Die Welt um mich herum versinkt Ich seh die Lichter ganz entfernt Ein Leben ohne Schmerz bedingt Dass man von Ferne sehen lernt

Ich will nicht in die Tiefe fallen Denn in der Tiefe seh ich dich Nur noch dein Echo wird verhallen Der Himmel färbt sich feierlich

Gehüllt werd ich in tiefe Schatten Während ich mich weiterdreh Die schöne Zeit, die wir einst hatten… Die Zukunft will, dass ich versteh!

Du bist das Karussell des Lebens Ein nie endender Kreis Ich will nicht weiter mit dir schweben Da ich auch um dein Fallen weiß

In meinen Träumen warst du immer hier Ein letztes Mal erscheinst du mir Dann lass ich endlich los Und in die Luft flieg ich befreit von dir

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  • AutorenbildValerie Dean

– Kurzgeschichte –

Motiv ist von Ryan Conrow (pexels.com)

Ächzend streifte Jana den viel zu großen blauen Overall von den Schultern, kleidete sich in ein frisches Top und eine Jogginghose und band ihre rot durchsträhnten blonden Haare zu einem Zopf zusammen, bis sie sich wieder annähernd wie sie selbst fühlte. 

Dann machte sie sich einen Chai Tee in der bescheidenen Küche, die lediglich durch eine schmale Säule vom Wohnzimmer abgetrennt war.

Gerade hatte sie es sich mit der dampfenden Tasse auf dem Sofa bequem gemacht und schaltete zwischen den verschiedenen Sendern und Netflix hin und her, da klingelte ihr Handy. Es war Dominik, ihr Exfreund. Er rief sie ungefähr jeden Tag um die gleiche Uhrzeit an, wenn ihre Schicht an der Kasse vorüber war, und erkundigte sich danach, wie es ihr ging.

Sicher nicht so blendend wie dir, dachte sie in Anbetracht der Tatsache, dass Dominik sich gerade verlobt hatte. Natürlich wusste die Glückliche, eine aufstrebende Influencerin, wenn Jana sich richtig erinnerte, nichts von ihren regelmäßigen Telefongesprächen.

Jana wusste, dass es falsch war, was da zwischen ihnen lief. Und tief in ihrem Inneren wusste sie auch, dass Dominik sie nur benutzte. So viel er auch über seine Freundin lästerte, er würde nie mit ihr Schluss machen. Und er hatte sich auch nicht ohne Grund von Jana getrennt. Jana war nicht mehr als jemand, bei dem man sich ausheulen konnte. Und doch konnte Jana diese seltsame Telefonbeziehung nicht beenden. Was blieb ihr denn sonst? Besonders in dieser Zeit? Dominiks Anrufe waren in etwa das Spannendste, was gerade in ihrem Leben passierte.

Dabei war es nicht einmal so, dass sie noch in Dominik verliebt war. Sie genoss einfach die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, auch wenn sie wusste, dass sie für ihn genauso auswechselbar war wie er für sie.

Dominik war das, was man zu Jane Austens Zeiten als Geck bezeichnet hatte und was Jana insgeheim einen Hipster-Waschlappen nannte. Er war das Kind wohlhabender Eltern, in einem Vorstadtbezirk großgeworden, hatte nie bei irgendetwas zurückstecken müssen und studierte jetzt Medizin. Dementsprechend war er immer gut gelaunt, selbst in nervenaufreibenden Zeiten wie diesen, zumindest, wenn sie seinem Social-Media-Auftritt Glauben schenkte.

Jana legte ihre Füße, die in flauschigen Socken steckten, auf dem glasigen Wohnzimmertisch ab und hielt den Hörer ans Ohr. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihm dieses Mal die Leviten zu lesen und diese toxische Freundschaft zu beenden.

Das war definitiv nicht das Leben, was sie führen wollte. Sie wollte jemanden, für den sie die einzige war. Aber leider war das in der heutigen Zeit nur ein unrealistischer Traum.

Es gab nicht viele Männer, die sich festlegen wollten und schon gar nicht für eine planlose Literaturstudentin wie sie, die nebenbei an der Kasse eines Drogeriemarktes jobbte. Die Gesellschaft schien aus lauter Dominiks zu bestehen, die ein Mädchen nicht nach ihrem Charakter, sondern nach ihrer Instagram-Reichweite aussuchten. Wo waren die Naturburschen geblieben, die lieber angeln gingen als einen Vlog über ihre neue Stelle als Junior Marketing Manager zu drehen? Die in ihrem Tinder-Profil nicht mit Fotos aus Bali und Patagonien und hochtrabenden Berufsbezeichnungen prahlten?

Wie weit war es eigentlich schon gekommen? Jana konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich schon mit Typen getroffen hatte, die sie einzig und allein von Bildern kannte, nur um dann in unangenehmer Stille nebeneinander her zu laufen, fieberhaft um ein gemeinsames Gesprächsthema bemüht.

Wie auch immer, Jana hatte mehr verdient als einen Typen, der ihr vorheuchelte, sie könnte ihm alles anvertrauen und im nächsten Moment in den Armen seiner Freundin versank. Sie zwang sich schließlich, ihn wegzudrücken.

„Hallo? Ist jemand da? Ich werde Sie rausschmeißen müssen, wenn Sie die Miete weiter immer auf sich warten lassen. Ich brauche das Geld leider auch, sonst wäre es sicherlich nicht so drängend.“

Jana schreckte aus ihren Gedanken auf und sprang auf, um die Tür zu öffnen. Vor ihr stand ihr Vermieter, verschwitzt und staubig wie immer, mit einer Zigarette im Mund. Er war Mitte fünfzig, hatte krauses braunes Haar und einen Bierbauch.

„Mist, das habe ich ganz vergessen, tut mir leid!“

Theatralisch klatschte sie sich an die Stirn und ließ einen verzweifelten Seufzer los. „Da hat man den ganzen Tag mit Rechnungen und Bons zu tun und vergisst die eigene Miete, ich bin ein echter Idiot…“

Zögernd und zugleich widerwillig sah er sie an, halb überrascht über ihr Bedauern, halb enttäuscht, dass es keine Diskussion gegeben hatte.

„Na gut. Morgen früh auf meinem Konto, letzte Chance.“

Sie setzte ein Lächeln auf und sagte: „Ganz bestimmt, Herr Berger, sie haben mein Wort.“

Schnell und immer noch das geheuchelte Lächeln auf den Lippen sagte Jana: „Äh, na dann, bis zum nächsten Mal.“

Beim letzten Wort hatte sie bereits die Tür zu geknallt und zischte es ärgerlich vor sich hin.

Immer dieser Vermieter. Seine Miete war viel zu hoch für diese kleine muffige Bude, bei der die Eingangstür schrecklich knarrte. Jana kam gerade so über die Runden. Jedes Semester spielte sie gelegentlich einmal Lotto, in der Hoffnung auf einen kleinen Gewinn, der ihren üblichen Verdienst aufstockte.

Sie streifte einen braunen Cardigan über und trug ein wenig Mascara auf. Sie war 22. Und was war aus ihrem Leben geworden? Ein übler Zyklus, bei dem jeder Tag dem anderen glich. Natürlich kam ihr das in dieser Zeit noch extremer vor. Schließlich konnte man nichts unternehmen, außer einzukaufen und zum Zahnarzt zu gehen. Ihre Studienfreunde versuchten alle ihre Kontakte zu reduzieren, um beim nächsten Familientreffen nicht ihre Großeltern anzustecken und ihre beste Freundin Nora war immer noch auf Reisen quer über den Globus. Die Vorlesungen waren online und Jana kam nur raus, wenn sie zur Arbeit im Drogeriemarkt ging.

Jana trat hinaus auf den schmalen Flur des Mietshauses und ging das Treppenhaus hinunter auf die Straße. Ihr kam die Idee, durch den Park zu spazieren, und sie kaufte sich beim Bäcker ein kleines Milchbrötchen für unterwegs. Vor ihr hatte sich bereits eine Schlange von maskierten Großstadtbürgern gebildet, die ungeduldig auf ihr Handy starrten und leise fluchten, wenn die Gesichtserkennung scheiterte.

Manchmal fragte sich Jana, ob das alles die Rache der Natur war, dafür, dass sich die Menschen, zumindest in den Industrienationen und Schwellenländern, immer mehr von ihr und voneinander entfernten. Die Welt wurde immer verrückter. Vor einem Jahrhundert und auch noch immer kämpften die Menschen gegeneinander. Aber jetzt trat noch ein weiterer Krieg auf den Plan, den man nicht mit Waffengewalt gewinnen konnte. Ein Kampf gegen die Symptome der menschlichen Dominanz auf dem Planeten. Der Klimawandel und Feinde, die aus RNA bestanden und doch die Macht hatten, die ganze Welt lahmzulegen.

Wenig später schlenderte Jana durch den nahegelegenen Stadtpark und genoss die Sonne auf ihrer Haut. Das Wetter würde schlechter werden. Vielleicht noch ein halber Monat, dann würde wieder der Herbst in die Stadt zurückkehren, und er würde den Winter gleich mitnehmen. Sie freute sich nicht auf diese Zeit, sie würde bedeuten, dass sie noch mehr drinnen hocken würde und sie hatte noch nicht einmal einen gemütlichen Kamin, der die Vorstellung vom kommenden Winter ein bisschen angenehmer machen würde.

Jana setzte sich auf eine Parkbank und zog ein Buch heraus, Pflichtlektüre im aktuellen Studienmodul. Wie zu erwarten war es ein Wälzer über die Liebe, aber er war viel zu philosophisch gestaltet und voller nervenaufreibender Ausschmückungen.

Plötzlich setzte sich eine alte Frau neben sie auf die Bank, die den Tauben um sie herum Körner zuwarf, was eigentlich verboten war, weil sie sich in letzter Zeit rasch ausbreiteten, aber es war ihr scheinbar egal.

Sie fing ein Gespräch mit Jana an und insgeheim war Jana dankbar dafür. Sie konnte der Frau ansehen, wie einsam sie war und Jana konnte nicht gerade das Gegenteil von sich behaupten. Selbst ihre Eltern und Geschwister sah sie nur selten, die lebten achthundert Kilometer weit weg.

„Ach wie schön“, sagte die alte Frau gerade verträumt, „Bei diesem Anblick wird einem warm ums Herz. Es gibt noch so viele schöne Dinge zu genießen – auch in dieser Zeit.“

Als Jana ihrem Blick folgte, traf sie der Schlag.

Dominik und seine Freundin schlenderten Hand in Hand den Sandweg entlang in ihre Richtung, einen unbekannten Typen im Schlepptau, der sich sichtlich als drittes Rad am Wagen fühlte. Vermutlich einer von Dominiks zahlreichen Kumpels, der eigentlich auf einen entspannten Männerabend gehofft hatte, aus dem jetzt leider nichts wurde.

Schnell senkte Jana den Blick auf ihr Buch und rückte ihren Schal so zurecht, dass ihr Gesicht nahezu vermummt war.

„Hmh“, murmelte sie der alten Dame zustimmend zu und verfiel dann in Schweigen.

Als sie das Gefühl hatte, dass die Luft rein war, hob sie den Blick vorsichtig wieder und sah zu ihrer Überraschung in die hellen Augen des unbekannten Freundes, der im Gegensatz zu den anderen beiden aufmerksam die Umgebung beobachtete. Sie wandte ihren Blick schnell ab und bereute es einen Moment später. Jana klappte ihr Buch zu.

Die alte Dame zuckte erschrocken zusammen, als Jana sich abrupt von der Bank erhob. Sie verabschiedete sich freundlich und verschwand in Richtung Postshop. Dass sie Dominik und seine Freundin so glücklich und zufrieden im Park gesehen hatte, hatte sie völlig durcheinandergebracht, sie brauchte dringend ein wenig Ablenkung.

Im Postshop angekommen, stellte sie sich in die Schlange und ließ sich dann einen Lottoschein von Heinrich aushändigen. Heinrich war der Besitzer, ein netter, älterer Mann, der sie schon kannte, seit sie in die Stadt gezogen war. Wenn Jana vorbeikam, plauderten sie oft eine halbe Stunde lang über Gott und die Welt.

Doch diesmal hatte Jana nicht die Kraft, sich mit irgendjemandem zu unterhalten.

Ohne zu überlegen kritzelte sie die erstbesten Zahlen, die ihr gerade einfielen aufs Papier. Dann atmete sie tief ein, und schloss innerlich endgültig mit Dominik ab, während sie auf den Tresen zusteuerte, den Zettel abgab und sofort wieder durch die Tür stürzte. Hatte sie überhaupt die Adresse draufgeschrieben? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und eilte geradewegs nachhause.

Als Jana am nächsten Morgen die Nachrichten schaute, klingelte ihr Handy und die altbekannte Nummer von Dominik tauchte auf dem Display auf. Sie packte das Handy, immer noch erfüllt von Wut, selbst wenn sie wusste, dass sie kein Recht dazu hatte und drückte ihn weg.

Dann begann sie damit, ihm eine zornige Nachricht zu schreiben. Dieser Typ tat ihr nicht gut, daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Er behauptete mit seiner einlullenden Stimme zwar immer, sie sei die Einzige, die er noch nie angelogen hatte und der er mehr vertraute als jedem anderen Mädchen, aber genau das war doch das Problem. Jana war die Einzige, die immer zuhörte. Auch wenn Dominik immer beteuerte, dass sie ihm alles erzählen konnte, interessierte er sich in Wahrheit doch gar nicht für sie, er redete und redete nur über sich und seine Probleme. Und leider konnte Jana sich ja schlecht bei ihm über ihnausheulen.

Sie hatte beschlossen, dass mit dieser Nachricht nun endgültig Schluss sein sollte. Ihre Finger bebten vor Aufregung.

Lieber Dominik,

bitte rufe und schreibe mich nicht mehr an. Du hast eine Freundin und wir beide wissen, dass es nicht richtig ist, wie du immer über sie redest, wenn wir telefonieren. Wenn eure Beziehung weiterhin so anstrengend ist, wie du immer behauptest, dann such dir einfach einen Psychologen oder trenne dich, aber ich werde mir das nicht länger anhören. Viel Erfolg bei deinem Medizinstudium, du wirst sicher erfolgreich und glücklich und hast den dauernden Zuspruch daher nicht nötig.

Er sollte ruhig ein wenig nachdenken, wenn er sich das Leben sonst schon so einfach machte. Sie drückte auf Senden, atmete einen Moment erleichtert auf, legte das Smartphone beiseite und widmete sich dann wieder den Nachrichten. Nach den ernüchternden Entwicklungen, die erneut in Bezug auf das Virus verkündet wurden, kamen nun die Lottozahlen. Wie jedes Mal, wenn sie davor gespielt hatte, verspürte sie ein komisches Gefühl in der Magengegend. Eine Mischung aus Aufregung und Angst vor Enttäuschung, letzteres war dann meistens begründet.

Sie starrte gebannt auf den Bildschirm, versuchte, sich nicht wie jedes Mal verrückte Illusionen zu machen, Zukunftsbilder von einem perfekten, unbeschwerten Leben, in dem sie beruflich machen konnte, was sie wollte, ohne sich Sorgen über Geld zu machen.

Als die Zahlen für einen Sofortgewinn von zehntausend Euro verkündet wurden, wurde ihr schlagartig bewusst, dass es genau die Zahlen waren, die sie aufgeschrieben hatte. Sie war zu überrascht, um einen Freudenschrei auszustoßen, sie saß einfach nur reglos da. Sie hatte zehntausend Euro gewonnen! Sie, Jana Beck, Bewohnerin einer ehemaligen Messie-Wohnung!

Staunend griff sie den Zettel vom Tisch und überprüfte noch einmal die Zahlen, in der Befürchtung, sie hätte sich um eine Zahl oder sogar um mehrere glatt vertan. Aber alle Zahlen stimmten überein.

Jana rannte stürmisch in den Postshop, hatte keine Geduld, zu warten, bis die Kundin vor ihr,

eine exzentrisch gekleidete Frau, die ihren alten Freund Heinrich in Beschlag genommen hatte, endlich fertig war, sondern rief quer durch den Raum: „Ich habe gewonnen, Heinrich! Ich habe gewonnen!“

Dankbar für die Ablenkung blickte Heinrich auf, ein wenig erstaunt über diese Abwechslung. Gewinne waren natürlich eher selten und die gefrusteten Verlierer ließen ihre Enttäuschung gerne an ihm aus, indem sie ihn fragten: „Hatten sie schon mal Hoffnung?“ Er bemühte sich dann immer, ein Stöhnen zu unterdrücken.

„Mein Glückwunsch, Jana!“

Jana lief durch den Park, übers ganze Gesicht strahlend. Sie musste sich zurückhalten, nicht in aller Öffentlichkeit anzufangen, zu der Musik, die aus ihren Kopfhörern dröhnte, zu tanzen. Sie streute sogar ein paar Körnchen in die Richtung der Tauben, die sich zwitschernd aufplusterten und sich um die Körnchen stritten. Zehntausend Euro! Kaum zu fassen! Damit waren erst mal ein paar ihrer Sorgen vom Tisch.

Sie spazierte bis zum Ende des Parks und passierte gerade die grüne Ampel, die zurück in die Innenstadt führte, da geriet die Welt plötzlich aus den Fugen.

Sie sah nur noch den Schatten eines Autos aus dem Augenwinkel, dann folgte der Aufprall und sie wurde einige Meter über den Asphalt geschleudert, bis sie reglos liegen blieb. Sie sah ihr zersplittertes Handy neben sich auf dem Boden liegen, neben ihrer blutverschmierten Hand.

Einen Moment lang war ihr Körper noch betäubt vom Schock, dann setzte der Schmerz ein und nahm Jana den Atem.

„Oh Gott!“, hörte sie eine Stimme wie von weither rufen. „Oh Gott!“

Dann eine andere Stimme: „Was stehen Sie denn nur rum? Rufen Sie verdammt noch mal einen Krankenwagen!“

Im nächsten Moment ging eine Frau vor ihr in die Knie und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

„Sie wurden angefahren. Aber es ist Hilfe unterwegs.“

Jetzt konnte Jana auch den Fahrer sehen, er lief einige Meter entfernt vor seinem Wagen herum und sprach hektisch in sein Telefon.

Die Frau, vermutlich eine einfache Passantin, verwickelte sie in ein Gespräch, um sie bei Bewusstsein zu halten.

Jana konnte nur in Bruchstücken antworten, selbst zu sprechen, schmerzte.

Sie wagte es nicht, den Blick vom Gesicht der Frau abzuwenden und an ihrem eigenen Körper hinabzublicken, aus Angst vor dem, was sie sehen würde.

Als die Frau sich aufrappelte, um den Sanitätern Platz zu machen, hätte Jana fast ihren Arm gepackt und sie gebeten, zu bleiben.

Zwei männliche Sanitäter hoben sie vorsichtig auf eine Trage und rollten sie in den Krankenwagen. Jana rührte sich nicht, jede Bewegung verursachte Schmerz.

Nachdem die Türen zugeschlagen wurden und der Wagen anfuhr, beugte sich einer der Sanitäter vor und nahm ihre Hand.

„Wie ist dein Name?“

Es war ein junger Mann, dessen Gesicht ihr irgendwie bekannt vorkam. Auch er versuchte, sie bei Bewusstsein zu halten, indem er mit ihr redete.

„J-Jana“, brachte sie mühsam über die Lippen.

„Du machst das sehr gut, Jana.“

Er drückte leicht ihre Hand. „Mein Name ist Alex.“

Er warf einen Blick über die Schulter und nickte seinem Kollegen zu, eine Geste, die sie nicht verstand, dann drehte er sich wieder zu ihr.

„Wie war dein Tag, Jana?“, fragte Alex. Seine Stimme war sanft und routiniert, er hatte offensichtlich Ahnung von dem, was er tat.

Bei dieser Frage hätte Jana beinahe bitter aufgelacht.

„Ich habe im Lotto gewonnen“, schaffte sie schließlich zu antworten.

Damit hatte der Sanitäter offensichtlich nicht gerechnet. Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe.

„Tja“, sagte er und versuchte sich an einem Lächeln, „Unglück im Glück oder wie nennt man das?“

Angst beschlich Jana. Wenn der Sanitäter versuchte, Witze zu machen, um vom Ernst der Lage abzulenken, konnte es nicht gut um sie stehen.

„Wie schlimm ist es?“, fragte sie mit dünner Stimme.

Die Miene des Sanitäters verfinsterte sich. Spätestens jetzt fiel ihr auf, woher sie ihn kannte. Es war der Junge, den sie mit Dominik und seiner Freundin im Park gesehen hatte.

„Das werden wir sehen“, sagte er, während er versuchte, die Besorgnis aus seiner Miene zu verdrängen, „Ich gebe dir jetzt etwas, wovon du dich gleich besser fühlen wirst.“

Er zog eine Spritze hervor und warf ihr einen aufmunternden Blick zu, während er ihr das Schmerzmittel injizierte.

Janas Kopf wurde ganz leicht und den Rest des Weges zum Krankenhaus verbrachte sie in einem Delirium, das sie daran hinderte, weiter mit ihm zu reden.

Das nächste, was sie mitbekam, war, wie der Krankenwagen auf den Parkplatz des Hospitals fuhr. Sobald die Türen des Wagens aufgingen und ihre Trage hinausgefahren wurde, schlugen ihr hektische Stimmen entgegen und begleiteten sie die gesamte Fahrt durch die sterilen Flure über.

Sie vermutete, dass sie sich im Operationssaal befand, doch genau wusste sie es nicht. Ihre Sinne waren noch immer benebelt und ihre Umgebung zerfloss in Schemen und Farben.

Die Ärzte redeten mit ihr, fragten sie etwas, doch sie konnte nicht antworten.

Dann umhüllte sie völlige Schwärze. Vollnarkose.

Alex

Normalerweise konnte Alex sich gut von den Geschehnissen auf der Arbeit distanzieren, eine Eigenschaft, die notwendig war, wenn man keine schlaflosen Nächte zubringen und noch arbeitsfähig bleiben wollte.

Doch dieser Fall war anders. Das angefahrene Mädchen ließ ihn nicht los. Als er nach seiner Schicht nach Hause kam, setzte er sich auf das Sofa und versuchte, irgendetwas im Fernsehen zu finden, um sich abzulenken. Doch es funktionierte nicht. Sie hatte schlimm ausgesehen. Alex war sich sicher, dass sie überleben würde, zumindest, wenn er auf seine Erfahrung vertraute. Aber trotzdem fragte er sich, wie es ihr ging. Er erinnerte sich daran, wie er sie gefragt hatte, wie ihr Tag gewesen war. Das Leben hatte ihr einen üblen Streich gespielt. Wie er schon gesagt hatte, Unglück im Glück.

Alex hatte am nächsten Tag frei, doch aus einem ihm unerfindlichen Grund fuhr er ins Krankenhaus und fragte nach ihr. Er hielt den Atem an, während die Dame an der Rezeption nach ihrem Namen suchte. Er erwartete halb, dass sie bedauernd den Kopf schütteln würde, doch dann zögerte sie und sagte: „Raum 113. Sind Sie ein Angehöriger?“

Er rang mit sich, schüttelte dann aber den Kopf.

„Nein. Ich war einer der Sanitäter, die sie hergebracht hat. Ich bin gerade nicht im Dienst. Ich… mich lässt die Sache einfach nicht los.“

Ein überraschend verständnisvoller Ausdruck erschien in ihrem Gesicht.

„Ich verstehe. Ich war auch einmal Sanitäterin und hatte einen ähnlichen Fall. Mich hat man damals nicht reingelassen aber… Naja. Ihre Eltern wohnen am anderen Ende des Landes, haben aber angekündigt, so schnell zu kommen, wie sie können. Das bedeutet nur, sie ist ohne ein bekanntes Gesicht aufgewacht. Vielleicht würde es sie aufheitern, Besuch zu bekommen.“

Er nickte und folgte der Schwester zum Zimmer.

„Ich danke Ihnen… Ich weiß nicht, was… Ich kann nicht mehr schlafen.“

Sie warf ihm wieder einen Blick zu, als verstünde sie ganz genau, was er meinte.

Jana

Der Moment, als sie aufwachte, war der Schlimmste. Die Geschehnisse prasselten mit einem Mal auf sie ein und mit ihnen setzte die Angst ein, die Angst vor dem, was die Ärzte ihr sagen würden. Die Angst davor, dass irgendeins ihrer Körperteile nicht mehr funktionieren würde wie davor. Die Angst davor, wie entstellt sie war. Eine Angst, mit der sie alleine war.

Eine Schwester hatten ihr mitgeteilt, dass ihre Familie auf dem Weg war, doch das konnte noch dauern. Bis dahin war sie mit ihren Gedanken allein.

Als die Tür zu ihrem Krankenzimmer aufging und ein Mann in Begleitung einer Schwester, die sie nicht kannte, hereinkam, richtete sie sich überrascht auf.

Wenn sie sich nicht irrte, war es der Sanitäter, der auf dem Weg zum Krankenhaus mit ihr geredet hatte. Alex. Allerdings trug er nicht seine Uniform. Die Schwester nickte ihm zu und verschwand dann. Jana verstand nicht, was los war. Sie öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.

Alex nahm in einiger Entfernung auf einem Stuhl Platz und wirkte, als wäre ihm gerade eine große Last von den Schultern gefallen.

„Es geht dir gut“, sagte er.

Jana nickte.

„Ich sehe schrecklich aus, nicht wahr? Die Schwester wollte mir keinen Spiegel geben.“

Alex antwortete nicht, aber das war Antwort genug.

„Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich hier bin“, sagte er ein wenig verlegen.

Sie nickte nur.

„Ich … konnte deinen Fall einfach nicht vergessen. Das ist mir noch nie passiert. Aber ich musste einfach herkommen und sehen, ob du in Ordnung bist.“

Sie sah, dass ihm Röte ins Gesicht stieg. Ihm schien gerade klarzuwerden, dass das alles andere als normal war.

Jana wollte ihn aus seiner Verlegenheit befreien.

„Wenn ich ehrlich bin, dann bist du genau das, was ich gerade brauche.“

Jetzt war es an ihr, rot zu werden.

„Ich meine… Ablenkung. Das brauche ich. Meine Eltern und meine Geschwister können erst in ein paar Stunden da sein. Ich bin auch selbst schuld. Warum ziehe ich auch achthundert Kilometer weit weg. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Mein Bruder und meine Schwester sind in der Nähe geblieben.“

Alex zuckte mit den Schultern.

„Das zeigt doch nur, dass du mutig bist. Und neugierig.“

Sie warf ihm einen forschenden Blick zu. Meinte er das wirklich? Oder war ihm das Gutzureden einfach nur schon in Fleisch und Blut übergegangen?

Jana seufzte. „Vielleicht. Aber viel gebracht hat es mir nicht. Ich bin für ein sinnloses Literaturstudium hergezogen und arbeite in einem Drogeriemarkt. Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, weil wir, ich zitiere, unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wo unser Leben hingehen soll. Ich hätte längst zurück in meine Heimatstadt gehen und eine Ausbildung anfangen sollen. Aber irgendwie war ich zu stolz, um mir diese Niederlage einzugestehen. Und dann saß ich irgendwann einfach … fest. Tja, und dann werde ich an dem Tag angefahren, an dem ich im Lotto gewinne. Das Leben scheint einen schwarzen Humor zu haben, was mich angeht.“

Obwohl Jana nicht das Gefühl hatte, ihre trübselige Lebensgeschichte sei besonders spannend, schien Alex ihr an den Lippen zu hängen.

„Warum denkst du, dass dein Studium sinnlos ist?“, fragte Alex, als meinte er diese Frage vollkommen ernst.

Jana zuckte die Schultern. „Die Leute belächeln einen, wenn man davon erzählt. Sie denken sich insgeheim, dass man mit seinem Bafög Steuergelder und seine eigene Lebenszeit verschwendet. Seinen Interessen zu folgen ist in der heutigen Gesellschaft nur erwünscht, wenn diese Interessen sich in Geld verwandeln lassen.“

Alex lachte. „Warst du schon immer so düster oder hat der Unfall diesen Sinneswandel gebracht?“

Jana musste gegen ihren Willen grinsen.

„Und warum solltest du mit dem Studium kein Geld verdienen können? Du kannst doch Lektorin werden oder… bei einer Zeitung arbeiten.“

Jana nickte. „Das war mein Plan. Leider haben viele diesen Plan. Es wird nicht leicht. Und die Bezahlung wird vermutlich nie besonders prickelnd sein. Aber ich habe schon zu viele Semester studiert, um jetzt zu schmeißen.“

Alex wirkte nachdenklich.

„Ich war immer ziemlich gut in der Schule“, sagte er, „Ich hätte sicherlich irgendetwas Hochtrabendes studieren können. Aber stattdessen bin ich Rettungssanitäter geworden. Und ich könnte mir keinen besseren Job vorstellen. Ob man glücklich in seinem Beruf ist, könnte nicht weniger mit Geld zu tun haben. Anderen Menschen zu helfen macht mich glücklich und wenn Literatur dich glücklich macht, dann solltest du dich nicht davon abwenden, nur weil du denkst, dass es die Gesellschaft so will. Immerhin wirst du es sein, die am Ende ihres Lebens bereuen wird, nicht das getan zu haben, was sie eigentlich wollte und nicht die anderen.“

Jana schwieg. Wo er recht hatte, hatte er recht.

„Ich habe dich schon mal gesehen“, gab sie zu.

Alex runzelte verständnislos die Stirn.

„Ich saß im Park und hab gelesen. Und du bist mit meinem Exfreund und seiner Freundin vorbeigelaufen. Es ist mir nicht sofort aufgefallen, aber irgendwie kam mir dein Gesicht im Rettungswagen bekannt vor.“

Erkenntnis leuchtete in Alex Gesicht auf.

„Ach, der Typ!“

Er lachte und schüttelte amüsiert den Kopf.

Jana hob die Brauen. „Der Typ? So sprichst du über jemanden, mit dem du befreundet bist?“

Alex prustete los. „Befreundet? Ich glaube, das würde nicht passen. Dominik Weber hat für ein Referat für sein Studium über die erste Hilfe von Rettungssanitätern recherchiert und war auf der Suche nach einem Experteninterview. Mein Cousin studiert mit ihm zusammen und hat ihm meine Nummer gegeben. Der Typ war einfach nur unausstehlich. Ich hatte ehrlich gesagt keine Lust auf das Treffen, aber ich habe mir meinem Cousin zuliebe die Zeit genommen. Dieser Dominik hat sich verhalten, als wäre es irgendwie selbstverständlich, was ich für ihn mache und ist nicht mal alleine gekommen, sondern mit seiner Freundin. Und du warst mal mit ihm zusammen? Wie die Art Mädchen kamst du mir nicht vor.“

Jana seufzte. „Tja, das ist vermutlich der Grund, warum wir nicht mehr zusammen sind.“

Alex neigte den Kopf. „Guter Punkt.“

Dann erhob er sich. „Willst du vielleicht einen Tee? Oder irgendetwas anderes?“

Jana nickte. „Ja, gerne. Vielleicht haben sie ja Chai Tee.“

Alex grinste. „Das bezweifle ich. Ich konnte bisher nur einen dieser Automaten ausmachen, aus denen der Kaffee drei Tage alt schmeckt.“

Als er zurückkam, redeten sie weiter. Über die unterschiedlichsten Themen. Jana erzählte ihm, einem Jungen, den sie erst ein paar Stunden kannte, Dinge, die sie nicht einmal ihrer besten Freundin Nora oder ihren Geschwistern erzählt hatte.

Die Zeit verging wie im Fluge, dementsprechend erschrocken war sie, als plötzlich ihre Eltern und Bruder und Schwester ins Zimmer stürmten und sich hektisch um sie versammelten. Tausende Fragen prasselten gleichzeitig auf sie ein.

In dem ganzen Chaos bekam sie nur noch mit, wie Alex kurz zum Abschied die Hand hob und dann leise aus der Tür verschwand.

Alex

Die nächste Woche war hart. Er machte unzählige Überstunden und wenn er nach Hause kam, schaffte er nicht viel mehr, als ins Bett zu fallen.

Mitte der zweiten Woche hatte er seinen ersten freien Tag nach einer gefühlten Ewigkeit. Seine Gedanken wanderten sofort zu Jana, doch wenn das passierte, ermahnte er sich jedes Mal. Vermutlich hatte sie es seltsam gefunden, dass er einfach so in ihrem Krankenzimmer aufgekreuzt war. Ein Mädchen, das mit so jemandem wie diesem Dominik zusammen gewesen war, hatte vermutlich kein Interesse an jemandem wie Alex. Wahrscheinlich war sie einfach nur dankbar gewesen, weil er einer der Sanitäter gewesen war, die sie ins Krankenhaus gebracht hatten. Auch wenn eine andere Stimme in seinem Kopf sagte, dass er sich noch nie mit einem Mädchen so gut unterhalten und noch nie so eine direkte Verbindung mit einem anderen Mädchen gefühlt hatte, überwogen die Zweifel. Es schien sie nicht wirklich gestört zu haben, als er gegangen war. Sie hatte einen Unfall. Ihre Familie war da. Natürlich war sie erst mal abgelenkt. Alex verfluchte sich selbst, doch er konnte das Gedankenkarussell nicht stoppen.

Jana

Er besuchte sie kein weiteres Mal. Jana war erschrocken von der Tatsache, wie sehr ihr das zusetzte. Sie hatte nicht mal seine Nummer und auch keinen Nachnamen. Alles, was sie über ihn wusste, war, dass er Rettungssanitäter war. Sie konnte nicht leugnen, dass es sie traurig machte, dass sie sich mal wieder geirrt zu haben schien. Jana hatte sich eingebildet, die beiden hätten irgendwie eine wahre Verbindung, einen Draht zueinander gehabt. Aber scheinbar waren das nur mal wieder ihre verzweifelten, sich nach Liebe sehnenden Hirngespinste gewesen. Ihr Unfall hatte ihn einfach geschockt und nicht losgelassen. Er hatte sie lediglich besucht, um den Vorfall verarbeiten und vergessen zu können. Um sie vergessen zu können. Wann hörte sie bloß auf, immer alles zu romantisieren? Jana seufzte. Vermutlich war das eine unvermeidliche Nebenwirkung, wenn man sich zu sehr mit Literatur und Poesie beschäftigte. Ihre Geschwister blieben nur einen Tag, dann mussten sie zurück an die Arbeit oder an die Uni. Auch ihr Vater musste wieder zurück in die Firma. Janas Mutter nahm sich als einzige eine Woche frei und leistete Jana Gesellschaft.

„Es wäre alles viel einfacher, wenn du immer noch in der Nähe wohnen würdest, weißt du? Dann könnten wir abwechselnd nach dir sehen. Willst du nicht für eine Weile nach Hause kommen?“

Jana war drauf und dran, nachzugeben und zuzustimmen. Aber dann schwirrten ihr Alex` Worte durch den Kopf.

Das zeigt doch nur, dass du mutig bist. Und neugierig.

Jana wusste, dass sie, wenn sie jetzt mit ihrer Mutter nach Hause fahren würde, das Studium abbrechen und dableiben würde. Sie würde nie wieder in der Universitätsbibliothek sitzen und für ihre Hausarbeiten recherchieren. Und sie würde Alex nicht wieder sehen.

„Danke, Mama“, sagte Jana, „Ich weiß das zu schätzen, ehrlich. Aber ich schaffe das schon.“

Ihre Mutter nickte und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen, den Jana nicht deuten konnte.

„Tja“, seufzte sie, „Ich kann nicht sagen, dass ich eine andere Antwort erwartet habe.“

Als Jana einen Monat später entlassen wurde, kaufte sie sich eine große Portion Eis und schlenderte durch den Park. Der Unfall hatte einige Knochen gebrochen, allerdings hatte Jana vergleichsweise Glück gehabt, denn die Brüche würden heilen und sie würde keine immensen lebenslangen Schäden davontragen. Sie sah, dass einige Leute sie musterten. Sie hatte noch immer einige Verletzungen, die einige Zeit brauchen würden, um zu verheilen. Auch im Gesicht. Aber zu Janas Überraschung machten ihr die Blicke der Leute weniger aus, als sie gedacht hätte. Sie hatte einen Verkehrsunfall überlebt, da konnten ihr die Blicke von irgendwelchen Leuten, die sie nie wieder sehen würde, vollkommen egal sein. Jana dachte an ihre Hausarbeit, für die sie eine besonders gute Note bekommen hatte und lächelte. Vielleicht hatte Alex recht. Vielleicht sollte sie einfach tun, was sie glücklich machte. Alex. Jana fühlte einen Stich. Warum war es ihr so wichtig, was er dachte? Was er zu ihr gesagt hatte? Warum nur konnte sie ihn nicht einfach vergessen? Er schien sie zumindest ebenso gut hatte vergessen können. Als sie an der Bank vorbeigehen wollte, auf der sie gesessen hatte, als er mit Dominik und seiner Freundin vorbeigekommen war, hielt sie verwirrt inne. Drei Mädchen, vermutlich um die sechzehn Jahre alt, waren vor der Bank stehengeblieben und schienen irgendetwas an ihr hochinteressant zu finden.

„Ich wünschte, jemand würde so etwas für mich machen“, sagte eines der Mädchen, das geflochtene Zöpfe hatte, verträumt.

„Glaubt ihr, es funktioniert? Dass sie das je sieht?“, sagte eine dünne Rothaarige.

Das dritte Mädchen schüttelte den Kopf.

„Bestimmt nicht. Sie hat vermutlich keine Ahnung hiervon. Wer würde das auch auf irgendeine beliebige Bank schreiben?“

Jana drängte sich zu den dreien durch.

„Äh, Entschuldigung“, sagte sie, auch wenn es ihr verdammt unangenehm war, „Kann ich das mal sehen?“

Die Mädchen rückten verdutzt zur Seite.

Jemand hatte die Bank mit Acrylfarbe bemalt. Oder eher beschrieben.

Liebe Jana,

ich hoffe, dass du öfter hierherkommst und damals nicht nur zufällig im Park warst.

Wenn du das siehst, bitte ruf mich an. Ich kann dich einfach nicht vergessen.

Dein Alex

Darunter stand seine Handynummer. Jana stutzte. Sie würde nicht einfach so ihre Handynummer an einem öffentlichen Ort hinterlassen. Abgesehen davon, dass die Polizei ihn mit seiner Handynummer drankriegen konnte. Und sie hatte die ganze Zeit gedacht, dass er sie schon längst vergessen hatte! Sie griff sofort nach ihrem Handy und ignorierte die ungläubigen Blicke der drei Teenager, als sie das Klingeln abwartete.

Nach etwa einer halben Minute meldete sich eine müde Stimme. „Ja?“

„Alex… Hier ist Jana. Ich habe deine… Malerei gefunden.“

Alex schien schlagartig wacher. „Jana!“

„Störe ich gerade? Du klingst, als könntest du Schlaf gebrauchen.“

„Nein… überhaupt nicht! Das heißt, eigentlich schon. Aber ich würde dich gerne sehen. Wo bist du?“

Dann schien es ihm von selbst aufzugehen.

„Im Park an der Bank, wo sonst“, lachte er über sich selbst, „Ich bin gleich da.“

Jana setzte sich auf die Bank und beobachtete amüsiert, wie die drei Freundinnen tuschelnd abzogen.

Es dauerte etwa eine Viertelstunde, dann sah sie Alex von weitem auf sich zukommen, bis sie direkt in seine grünblauen Augen sah.

„Ich hoffe für dich, das war ein Kummer-Eis“, sagte er und deutete auf die Pappschale in ihrer Hand, „Ich habe noch nie Frozen Joghurt gegessen. Schmeckt das?“

„Sag du es mir“, erwiderte sie, schmierte sich etwas davon auf den Mund und küsste ihn.

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